Vorwort:
Wie oft habe ich das in meinem Leben gehört: „Schreib es doch mal auf, denn es ist eine schöne Geschichte.“ Gemacht habe ich das nie. Als ich Stolpe auf Usedom für mich entdeckte, kamen die Kindheitserinnerungen von den zahlreichen Sommerurlauben auf dem Bauernhof zurück. Unweit von Stolpe gibt es ein kleines Dorf, welches über viele Jahre meine Heimat im Sommerurlaub war. Nun habe ich es einfach einmal gewagt, einige Geschichten aus dieser Zeit aufzuschreiben. Menschen, denen ich als Kind in den 70ern begegnete und an die ich gerade jetzt zurückdenke. Nichts Spektakuläres, aber ein paar kleine Episoden von einfachen Menschen auf der Insel und natürlich von mir. Gewidmet sind diese Zeilen Ida & Otto, die als einfache Bauern viele Jahre unsere sommerlichen Gastgeber waren und heute leider nicht mehr leben.
Ida & Otto (Episode 1): Die Ankunft.
Auch wenn mich mein bewegtes Berufsleben durch die gesamte Bundesrepublik führte, ist Usedom für mich ein besonderer Ort, der meine Kindheit in vielen Punkten entscheidend prägte. Als Stadtkind sehnte ich mich nach der ländlichen Idylle und Überschaubarkeit. Geschichten wie die Heiden von Kummerow, ein Roman von Ehm Welk, stachelten mich regelrecht an das Landleben etwas genauer unter die „kindliche Lupe“ zu nehmen. Sicher war es weniger der vorhandene literarische Wert dieses Buches, sondern mehr die darin erzählten Streiche, die in mir die Lust auf die ländliche Sorglosigkeit wachsen ließ. Jedenfalls war in meiner kindlichen Fantasie das Landleben, weit weg von der verhassten Schule (ganz wichtig), eine erstrebenswerte Lebensplanungsoption. Wie oft machte ich mir in den nicht enden wollenden Unterrichtsstunden darüber Gedanken, ob ein Leben auf dem Land eine so lange Schulzeit als Voraussetzung brauchen würde, statt den teilweise hilflos wirkenden Versuchen der Wissensvermittlung, der in meinen Augen durchschnittlich begabten Lehrer zu folgen.
Meine Eltern hatten der familiären Urlaubsplanung, durch die Vermittlung einer Kollegin, eine für mich interessante Wendung gegeben. Statt der üblichen Reise zu meinen Großeltern, die ich zwar sehr mochte, die aber leider auch in einer Stadt wohnten, sollte es auf einen Bauernhof auf der Insel Usedom gehen. Für mich klang das wie Musik in meinen Ohren. Dies nicht nur, weil ich mich in diesem Augenblick als festen Bestandteil der jungen Landbevölkerung und den damit verbundenen Vorstellungen meines „Streiche-Schlaraffenlandes“ wähnte, sondern weil ich darin die nicht unbegründete Chance sah, dem morgendlichen Mathe-Nachhilfeunterricht meines rechenbegabten Opas zu entkommen. Als Chefrevisor einer Bank versuchte er bei jeder Gelegenheit verzweifelt aus mir seinen Nachfolger zu machen. Aber Mathematik war nun mal nicht meine Sache. Allein seine bohrende Begrüßungsfrage: „Na, was macht denn die Schule?“ bedeutete für mich wochenlange Albträume. War es doch schon schwer genug meinen Eltern zu Beginn der Sommerferien mein Zeugnis als großartigen Erfolg zu verkaufen, so wäre nur der Versuch einer solchen Strategie bei meinem Opa zum Scheitern verurteilt gewesen. Aber das sollte mir ja nun durch den fabelhaften neuen Urlaubsplan meiner Eltern erspart bleiben. Voller innerlicher Dankbarkeit freute mich riesig darauf.
Ganz in der Nähe von Stolpe auf Usedom, im Thurbruch, liegt ein kleines Dorf mit dem einprägsamen Namen Katschow. Dieser Ort war auf der Insel Usedom für seine Schweinezuchtanlage bekannt (für alle PETA-Freunde, es war genau die Art von Schweinezucht, die ihr heute bekämpft). Mit ca. 100 Einwohnern, tausend Schweinen und Millionen Fliegen war Katschow genau das Gegenteil von meinem städtischen Alltag. Wenn der Wind aus der richtigen Richtung wehte, wurde der Odeur der vierbeinigen Landbevölkerung zu einem täglichen Urlaubsbegleiter und Katschow ein tierischer „Luftkurort“, der als einzigen Ausweg die „Strandflucht“ oder ausreichend Alkohol ließ. Für Alkohol war ich noch zu jung, also blieb nur die Flucht an den Strand. Trotzdem hatte der Alkohol in Katschow zur damaligen Zeit eine große Bedeutung. Dazu aber später mehr. Da ein fester Ferienplatz an der Ostsee zur damaligen Zeit eine Besonderheit war, hat man die unzähligen Fliegen, Mäuse und ausdünstungsfreudigen Schweine gerne in Kauf genommen.
Apropos in Kauf nehmen: Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, aber das Ungleichgewicht von Preis und Leistung lag damals an der Ostsee auf dem Preis. Wie im Sozialismus allgemein üblich, bestimmte auch hier das Verknappungsprinzip den Preis. Es gab in einem mit Stacheldraht eingezäuntem Land einfach zu wenig Urlaubsplätze. Und so half man sich selbst. Dazu ein einfaches Beispiel: Ein Bauer an der Ostsee stellte bei seiner Gemeinde einen Bauantrag für einen Ziegenstall und bekam die Genehmigung. Im Sommer hatte der Ziegenstall dann Gardinen und Urlauber. Es war aber im wahrsten Sinne des Wortes ein Bau in der Größe eines Ziegenstalls. Das mit der Baugenehmigung ist nur theoretisch gemeint, denn die Ziegenställe wurden in den meisten Fällen ohne Genehmigung gebaut. Ob Bauamt oder Finanzamt, man regelte die Dinge nach dem Motto: „Eine Hand wäscht die andere und dazwischen ist Seife“. Also ohne die „staatliche Fürsorge“.
Nach einer 8-stündigen Fahrt über Straßen, die bei heutigen Bedingungen nicht einmal unter Verkehrsberuhigungsaspekten Bestand hätten, erreichten wir unser Urlaubsparadies und freuten uns über eine sehr herzliche Begrüßung und natürlich die unzähligen Fliegen. Unsere Wirtsleute waren gebürtige Ostpreußen, die als Flüchtlinge auf Usedom eine neue Heimat gefunden- und im Zuge der Boden-Reform die Hälfte eines Bauernhofes erhalten hatten. Ich erinnere mich noch gut an Oma Ida (so sollte ich sie nennen) und ihren Ausruf: „Neej, neej, neej de Jäst sin da!“ (für alle Nicht-Ostpreußen, sie meinte nein, nein, nein die Gäste sind da). Ida war eine Frau im Rentenalter, die auch so aussah, wie ich mir eine Bäuerin vorstellte. Sie hatte ein freundliches Gesicht, ihre welligen, angegrauten Haare waren unter einem Kopftuch versteckt, was sie im Nacken verknotet hatte und ihren vollschlanken Körper umhüllte eine Nylon-Kittelschürze, die damals offensichtlich den modischen Standard einer „modernen“ Landfrau darstellte. Besonders „schick“ fand ich allerdings ihre Schuhe, die ehemals Gummistiefel waren und durch hantieren mit einer Schere zu Schlappen umfunktioniert wurden. Aus dem Hintergrund war das Gegacker von Hühnern und das aufgeregte Schnattern von Gänsen zu hören. Ida rief mit ihrer krähenden Stimme: „Otto, meein Jott, nu komm doch mal“. Während ich versuchte nicht über den ostpreußischen Dialekt zu lachen, kam Otto. Er wirkte auf mich wie ein Hüne. In leicht schaukelndem und schlürfendem Gang näherte er sich uns bedächtig, mit einem weißen Spitz auf dem Arm, der sofort zu bellen begann. Seine Haare waren genau so weiß, wie das Fell vom Spitz. Auf dem Kopf trug er eine Schiebermütze. In Ottos unrasiertem und von Furchen durchzogenem Gesicht konnte man ein hartes Leben ablesen. Als er zu lächeln begann eröffnete sich ein dentales Chaos. Ihm waren nur noch wenige Zähne im Unterkiefer verblieben. Der Rest war offensichtlich der harten Landarbeit zum Opfer gefallen, vermutete ich. Er trug ein Hemd, was er offensichtlich schon länger trug und eine Strickjacke, die ebenfalls ihre besten Jahre schon hinter sich hatte. Bei der Schuhmode hatten wohl Ida´s Schlappen Pate gestanden oder umgedreht. Auch er begrüßte uns herzlich, nachdem er ausgiebig aufgestoßen hatte, mit seiner dunklen Stimme: „Watt is dat scheen dat ihr jekommen seid.“ Dabei leuchteten seine auffallend glasigen Augen fast liebevoll. Er wirkte auf mich sehr lustig und der gemeinsame Gang zum Terrassentisch verriet mir, dass diese Fröhlichkeit eine starke Unterstützung erfahren haben musste. Mein Vater übergab den beiden eine Pralinenschachtel und man konnte sehen, dass sich Ida darüber sehr freute. Diese Freude in ihrem Gesicht erstarrte schlagartig, als mein Vater eine Flasche guten Weinbrand an Otto übergab. „Neej dat währ doch nich nötich jewesen“, sagte freundlich. Da er die Flasche mit fachmännischem Blick betrachtete, erkannte ich, „wie nötig“ die Flasche Weinbrand war und ich sollte damit recht behalten. Da mir durch einen ersten Selbstversuch bekannt war, dass dieses Zeug abscheulich schmeckt, hatte ich beschlossen so etwas nicht mehr zu probieren und konnte mir die Freude von Otto noch nicht erklären.
Otto schritt auch umgehend zur Tat. Er schob meinem Vater ein Glas zu und öffnete die Flasche. Mein Vater zierte sich anfangs noch, konnte jedoch aus Höflichkeit den angebotenen Drink nicht abwehren. Ida brachte noch ein Stück vertrockneten Kuchen für mich und ich begann mich mit dem weißen Spitz anzufreunden, der Molli hieß. Dank des vertrockneten Kuchens wurde er umgehend mein bester Freund. Idas böser Blick zu Otto und das damit verbundene Kopfschütteln, gekoppelt mit einem leisen „nej, nej, nej immer diese Sauferei“, zeigte mir, dass unsere Ankunftszeremonie nicht mehr ihren Vorstellungen entsprach. Aber offensichtlich kannte sie diesen Verlauf bereits sehr gut. Otto und mein Vater verfielen in ein angeregtes Gespräch und mir fiel auf, dass sich das Verhältnis bei der Weinbrandzufuhr 4 zu 1 für Otto entwickelte. Das wunderte mich nicht, denn mein Vater hat noch nie getrunken. Rückblickend kann ich sagen, dass ich meinen Vater in meinem ganzen Leben nie betrunken gesehen habe. Umgedreht sah das später dann schon anders aus.
Mein Vater versuchte sich aus der auf mich endlos wirkenden feuchten Begrüßungszeremonie zu befreien, in dem er nunmehr das Gepäck aus unserem kleinen Auto auspacken wollte. Doch zuvor wollte Ida uns noch unser Zimmer zeigen. Auch Otto wollte der Besichtigung beiwohnen, brach aber nach zwei vergeblichen Versuchen von der Bank aufzustehen ab und kippte sich lieber noch den Rest des Weinbrandes in sein Glas. Das Zimmer wirkte auf mich trostlos. Für meine Eltern gab es ein Doppelbett und ich bekam ein Bett, welches offensichtlich aus einem Krankenhaus der 30er Jahre stammte. Dicke Federbetten lagen bei den sommerlichen Temperaturen darauf. In der Ecke stand ein Waschschrank mit Schüssel und einem Krug.
Irgendwie machte sich bei mir ein Druck bemerkbar. Offensichtlich wollte die von mir auf der Fahrt getrunkene Limonade meinen Körper wieder verlassen. Ich fragte Ida nach der Toilette. „Da jeste übern Hof, de Tür, wo dat Herzchen drauf iss.“ Ich lief an Otto vorbei, der sich nunmehr mit einer Flasche Korn auseinandersetzte und wäre beinah über die leere Flasche Weinbrand gestolpert, die er ordentlich, wie eine Trophäe neben seiner Bank abgestellt hatte. Er lächelte mich zahnlos an und murmelte „Joongchen, fall nich!“. Ich öffnete den Verschlag mit dem Herz und blieb mit offenem Mund, wie angewurzelt stehen. Was war das denn? Das soll ein Klo sein? Wie soll ich denn da pinkeln? Vor mir war eine große Kiste mit einer aufgeschraubten Toilettenbrille aus Holz. Ich stand vor einem unlösbaren Problem. Mein Druck wurde immer größer und ich konnte mit diesem komischen Ding nichts anfangen. Außerdem stank es ungeheuerlich, was den Fliegen offenbar sehr gefiel. Fragend schaute ich mich um und sah, dass Otto es irgendwie geschafft hatte, sich von seiner Bank zu trennen. Jedenfalls war er weg. Suchend blickte ich mich um. Dann entdeckte ich ihn an einer mächtigen Linde, die etwas abseits auf dem Hof stand. Breit- und steifbeinig stand er leicht schaukelnd an dem Baum und… . Sofort rannte ich in seine Richtung baute mich neben ihm auf und… . Ah, jetzt ging es mir besser. Otto stand mit einigem Abstand neben mir und schaukelte immer noch steifbeinig, wie ein Grashalm im Wind. Danach torkelte er bedächtig und ständig lächelnd wieder zu seiner Bank auf der Terrasse vor dem Haus und widmete seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Flasche Korn. Um seine Beine schlängelte sich eine Katze und Molli hatte es sich neben Otto auf der Bank gemütlich gemacht. Ich rannte ins Haus und berichtete meinem Vater von der Toilette. Mein Vater konnte meine Beschreibungen sofort zuordnen und meinte, dass es sich um ein „Plumsklo“ handeln würde. Noch während seiner Erklärung steckte Ida ihren Kopf durch die noch offene Zimmertür und meinte: „Wat ich noch saagen wolt, neben de Tür mitm Herzchen is noch ejne janz normale Toilette.“
Ich gebe es zu, kurzzeitig kam bei mir der Gedanke auf, dass die morgendlichen Mathematik-Übungen bei meinem Opa vielleicht doch…, aber nein! Dieser Gedanke war einfach zu abschreckend. Außerdem fand ich Molli super und war der festen Überzeugung, dass ich ein guter Bauer werden würde und so endlich der Schule entkommen kann. Um diese Berufskarriere auch ordentlich vorzubereiten beschloss ich zunächst erst einmal das Umfeld zu erkunden. Nach kurzer Abmeldung bei den Eltern und der mahnenden Aufforderung, „aber nicht zu lange, es gibt gleich Abendbrot“, ging es los. Als ich an der Terrasse vorbeikam, bemerkte ich, dass Otto offensichtlich den Kampf mit der Flasche Korn aufgegeben hatte. Er saß regungslos auf seinem Platz, seine Schiebermütze im Nacken und das Kinn auf der Brust. Die halb gelehrte Flasche Korn stand wie ein Mahnmal für exzessives Landleben auf der Insel Usedom vor ihm und schlief offensichtlich auch.
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